Mutters geliebte Socken

Letztes Jahr habe ich es gewagt, meiner Mutter die selbst gestrickten Socken, die sie mir immer zu Weihnachten schenkt, auszuschlagen. Ich versuchte es ihr sehr schonend beizubringen. Kein Gehör. Nach meiner Weigerung folgte dann der Donnerschlag. Ich fühlte mich, als ginge ich durchs Fegefeuer. Die Mutter bestrafte mich zunächst ganz sanft. Für den wöchentlichen Mittagstisch hatte sie plötzlich viele Alternativen offen, die sie nicht verpassen wollte. Lunch-Kino, Mittagstreff mit den Freundinnen und zu allen Tageszeiten ausgedehnte Spaziergänge. Ich dachte mir nicht viel dabei. Im Gegenteil: anfänglich war ich froh, mich von meiner Wochenpflicht befreit zu haben. Der Zwist verschärfte sich mit der Zeit. An Familienanlässen vernachlässigte sie mich bewusst, schenkte mir kaum noch ihre Aufmerksamkeit oder ignorierte mich ganz einfach. Nicht nur meine Mutter teilte mir unmissverständlich ihren Missmut mit, sondern auch die Verwandtschaft redete mir gehörig ins Gewissen redeten: «Was hast du dir nur dabei gedacht?» oder «Siehst du nicht, wie schlecht es deiner Mutter geht?», waren noch die harmlosesten Kommentare, mit denen ich konfrontiert wurde. Die Situation eskalierte, als ich mich entschloss, zum Gegenschlag auszuholen. Ich meldete mich einfach nicht mehr bei ihr, ignorierte sie und mied fortan Familienanlässe. Dumm war nur, dass ich wegen meinem Verhalten mehr litt, als mir lieb war. Eine reine Qual. Ich fühlte mich falsch verstanden und der angezettelte Disput war nicht das, was ich mit Ausschlagen des Geschenkes eigentlich erreichen wollte. Das Ausmass meiner Verweigerung hatte ich nicht vorausgesehen. Eines Abends kurz vor Weihnachten griff ich zu Feder und zu Schreibpapier. «Liebe Mutter, ich bräuchte dringend neue Socken ...», schrieb ich ihr. Unter dem Weihnachtsbaum lagen dann die, die ich wohl das Jahr zuvor ausgeschlagen hatte.